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Die Freien Kammerspiele richteten dem zeitgenössischen Tanz ein zweites Fest in Magdeburg aus
Körperliche Sprachgewalt, gegen die jedes Wort verblasst
Nigel Charnock entblößt sich auf der Bühne - innen, außen, vollends. Foto: H.-L. Böhme


Magdeburg - Zwei lieben sich, doch ihr Haus ist von Anfang an zu eng. Sie reißen es ein, unbemerkt. Stück für Stück fällt. Am Ende steht nichts mehr. Zum Glück. Nur grenzenlos kann Liebe bleiben. Die "wee dance company" aus Berlin erzählte diese alltägliche Geschichte mit ihrem weniger alltäglichen Ausgang am Wochenende in den Freien Kammerspielen. Das zweite Tanzfest im Magdeburger Schauspielhaus bewies, dass alles ohne Worte erzählt werden kann. 

 Fast alles. Nur Nigel Charnock benutzte (zu) viele. Er wurde politisch. Doch auch für seine Botschaft fand er stumm klarere Bilder.

Gefühlschaos mit Goldfisch
Wir wissen es und spüren täglich: Eine Bewegung sagt oft mehr als tausend Worte sagen und klingt lauter als ein Schrei. Der ganze Körper ist ehrlicher als der Mund, selbst der gedrillte. Zeitgenössischer Tanz versucht - gedrillten, also hochtrainierten - Körpern eine ehrliche Sprache abseits normativer Grenzen des schönen, aber engen (Tanz)Fachs zu geben. Was ist eigentlich noch Tanz und was nicht mehr? Eine Frage ohne eine Antwort. Also eine spannende Sache.

In Magdeburg wurde sie bisher wenig "diskutiert". Experimenteller Tanz hat (noch) keine Heimat in der Landeshauptstadt. Das Theater Magdeburg arbeitet an der Änderung dieses Umstands oder Missstands. Mit Erfolg. Zum zweiten Tanzfest der aktuellen Spielzeit strömte neugieriges Besuchervolk in Scharen zu fünf Inszenierungen von Gästen aus Italien, Großbritannien, Tschechien und Deutschland.


Die Volksstimme besuchte zwei höchst unterschiedliche Produktionen. Beide wurden von der Publikumsmehrheit nahezu frenetisch gefeiert. Ob der Brite Nigel Charnock mehr Applaus für seine radikalen, politischen Botschaften oder für seine Kunst bekam, lässt sich nicht klären. Er hatte jedenfalls auch (wenige) "Gegner" im Saal. Die "wee dance company" aus Berlin machte sich ausschließlich Freunde.


 




Nigel Charnock wird international als "Meister des ,Physical Theatre'" gefeiert. Es hat seine Ursprünge in den 1980er Jahren in England. Charnock - Schauspieler, Tänzer und Leiter der "Helsinki Dance Company" - gehört zu seinen Begründern. Was "Physical Theatre" denn nun eigentlich ist oder sein soll, präsentierte Charnock dem Magdeburger Publikum mit seinem Solo "Frank". Nichts Schönes! Bloß nichts Schönes! Knallhart, zynisch, respektlos bis brutal - das ist "Physical Theater". Und es ist hochpolitisch. Gen Ende wischt sich Charnock oder eben "Frank" mit der britischen Fahne den Hintern ab, damit auch alle verstehen. Zuvor hat er sie sich schon in die da noch vorhandene Hose - gleichsam "in den Arsch" - geschoben. Aber das Bild war ihm noch nicht deutlich genug.

Was macht Charnock? Er tanzt brutale Tänze - nach Passionsklängen wie nach Techno. Er singt brutale Lieder (mit nicht unbeeindruckender Stimme!) von Liebe und von seinem Liebsten in Kreuzberg, der nicht liebt. Er verteilt Bonbons ans Publikum. Auf dass es ihn aushalte? Er be- und übersteigt die Zuschauer von der letzten bis zur ersten Reihe körperlich und immerfort mit seinen zynischen Ergüssen: über Bush und Clinton und die "Freude" gläubiger Menschen am Töten. Über immer größere Autos, immer mehr Hunde ("Kinder sind nicht gut ..."), über Gier nach allem, die niemandem etwas lässt. Es muss gelitten werden. Es darf auch gelacht werden. Weniger. Und wenn, dann über Charnock selbst, wenn er sich entblößt - wortreich, bewegt und ganz sächlich. Nichts ist heilig. Deshalb darf eigentlich doch nicht gelacht werden. Am Ende wird "Frank" uns darüber aufklären, wer wir sind: "Yes, we are God!" "Frank" hat vorher keinen Zweifel daran gelassen, dass wir nicht göttlich sind - aber auch keinen daran, dass wir uns dafür halten.

Jubel, Getrampel, rhythmischer Beifall, Ovationen - stehend. Vereinzelt klatscht einer nicht und guckt grimmig. Charnock spaltet. Das Viel-Feindviel-Ehr-Prinzip ist seines. In Magdeburg hatte er mehr Ehr.


Die fünf Tänzer der "wee dance company" machen sich keine Feinde, sie sind sich selbst oft Feind genug im "Schmetterlingsdefekt". So heißt die Produktion, die das Berliner Ensemble in Magdeburg zeigte. Und so heißt auch eines der bekanntesten Sinnbilder der Chaostheorie. Kann es sein, dass der Flügelschlag eines Schmetterlinges in Asien ein Unwetter an der Westküste der USA auslöst?, fragt diese Theorie. Kann es sein, dass es einem Goldfisch im Glas besser ergeht als einem Menschen, der inmitten chaotisch-menschlicher Gefühlswelten allein bleibt?, fragen die Tänzer und stellen ganz zu Beginn ihrer Aufführung den Fisch im Glas an den Bühnenrand. Und dann bleibt fast immer einer allein bei ihren Tänzen. Bei fünfen ist immer einer zu viel, bei dreien sowieso und bei zweien manchmal auch.

Drei Frauen und zwei Männer tanzen, dass der Atem stockt. Mal, weil so technisch perfekt. (Unglaublich, welche Experimente synchron funktionieren!) Noch atemloser macht die Fülle zutiefst menschlicher Ver- und Missverständnisse im Miteinandern und im Gegeneinander. Am Atemlosesten aber macht den Zuschauer die große Schönheit, die darin liegt, wenn sich Menschen wirklich treffen: zwei, drei, vier oder fünf. Am Ende finden sich vier. Eine bleibt allein mit dem Goldfisch - nun im Plastiksack.

Das Publikum bangt beim Solo mit Fisch, dass der Einsamen auch diese Wasserblase platzt. Sie hält. Das Publikum: erleichtert, tief gerührt und dankbar. Inniger Beifall. Den Tänzern und denen, die sie holten. Den Festveranstaltern.


Die Tanzfest-Idee geht auf in Magdeburg. Es scheint, die Magdeburger haben darauf gewartet, dass sie endlich einer hat. Natürlich: Es wird ein nächstes Fest von der Art geben, voraussichtlich im Herbst.

Von Katja Tessnow

  

(VS)
 
 
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