Kultur
Tanz - Großer Ansturm auf »Internationales Tanztheater XI« an der Tonne: Spielort Planie 22 reicht nicht für Besucher

Liebe, Witz und Rituale

VON SONJA LENZ

REUTLINGEN . Das Team habe schon seit Tagen Interessenten abwimmeln müssen, bedauerte Tonne-Intendant Enrico Urbanek zu Beginn der Veranstaltung »Internationales Tanztheater XI« - und machte damit klar, wie dringend der 300-Plätze-Saal in der Planie 22 notwendig ist. Die Besucher, die Platz gefunden hatten, erlebten am Samstag dann einen Abend voller Poesie und Leidenschaft, gekennzeichnet von den Aktionsformen Synthese, Ritual und Kampf.

Die »wee dance company« Berlin stand dabei für Synthese. In drei verschiedenen Choreografien begeisterten sie das Publikum mit ihrer Körpersprache des Miteinanders. Die Tänzer nehmen immer wieder Bewegungsimpulse des Partners auf und führen sie mit ihrem Körper weiter. Oft verbinden sich zwei Körper zu einer Bewegungseinheit, umwinden sich die Tänzer in verschlungenen Hebe- oder Rollfiguren, verschmelzen in organischem Energiefluss zu einem Ausdruck.

»wee dance company« aus Berlin

Berührend, geradezu bezaubernd gelang ihnen das im Pas de deux »Und wenn sie nicht gestorben sind«: Dan Pelleg und Nora Hageneier demonstrierten in schwebenden, eleganten Figuren, wie die Verwicklungen der Liebe und die Selbstvergessenheit in ihr zu einem entrückten Zustand führen können.

Überschattet von Melancholie deklinierten Yaron Shamir und Meytal Blanaru das gleiche Wort: Sie zelebrierten in »Frozen« zur pulsierenden Musik von Alva Noto ihre Ode an die Liebe als Opfertanz ihrer selbst. Mit einer antik anmutenden, archaischen Ernsthaftigkeit entwickelten sie ihre superexakten und rasend schnellen Bewegungen immer neu aus Momenten der Sammlung, der Spannung, in denen sie ungeheure Energieströme zu zügeln schienen und sie durch die Glieder schickten, bis sie in filigran bebende Fingerspitzen ausliefen. Ihr Tanz stellte sich als ganz eigene Sprache dar, ein Ritual des einander Begreifens, Begehrens und Verletzens, mit Körper und Atmung sehr bewusst in Szene gesetzt. Einzig das Schlussbild hatte plakativen Charakter: Shamir streckt den Arm aus, um Blanaru übers Haar zu streichen, stößt mit dem Handballen zu Beginn der zärtlichen Geste jedoch immer an ihre Stirn, ihr Kopf federt zurück, wird von seinem Streicheln wieder nach vorne gezogen.

Die zwei anderen Aufführungen der »wee dance company« beschäftigten sich mit Charme und Witz mit allerlei menschlichen Befindlichkeiten: In »Grasshopper« agieren vier Anzugträger (Nora Hageneier, Dan Pelleg, Mayra Wallraff und Marko E. Weigert) auf und mit zwei Bahnen Kunstrasen sowie mit diversen Regenschirmen.

Bilderbogen des Arbeitsalltags

Ihre Bewegungen, mal träumerisch, mal roboterhaft hektisch oder müde und gebeugt trippelnd lassen sich durchs Schlussdia rückblickend als Bilderbogen aus deutschem Arbeitsalltag interpretieren: Auf der Leinwand im Hintergrund der Bühne erscheint eine Aufsicht auf die vier Tänzer im Anzug, picknickbereit im grünen Gras sitzend, von Vogelgezwitscher umgeben. Die Kamera zoomt das Motiv in die Ferne, die Naturidylle entpuppt sich als schmale Verkehrsinsel auf einer vierspurigen Schnellstraße.

In dem Stück »Box« entdecken Dan Pelleg und Marko E. Weigert die Körperlichkeit zweier Riesenkartons. Sie streicheln sie, toben sich an ihnen aus und funktionieren sie zur Kasperl-Bühne um, hinter der sie immer wieder in neuen Posen auftauchen.

Interaktion zur Cello-Suite

Gegenüber diesen sich fast rein auf die Körpersprache verlassenden Auftritten gestaltete sich die Uraufführung »Einfach so« aus Reihen des Tonne-Umfelds deutlich schauspielerischer. Als die eigentliche Dominante (und Domina) erwies sich Johann Sebastian Bachs Cello-Suite Nr. 4, live im Hintergrund gespielt von dem Musiker Thomas Lambeck. An ihr und einem Gedicht von Yvonne Lachmann arbeiteten sich tänzerisch und deklamierend Galina Freund und Gaetano Posterino ab.

Ihre Interaktion war eher kämpferisch, Mimik, Lachausbrüche und Szenen wie die des gegenseitigen Ohrfeigens, die in Bedrängen und halb gewaltsame Versöhnung mündet, unterstrichen den erzählerischen Charakter des Stücks. Begeisterter Applaus belohnte alle Ensembles. (GEA)

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