Von A bis Z registriert

Die Görlitzer Tanz-Company beschäftigt sich mit Stereotypen und tut sich selbst schwer, kreativ auszubrechen.

Sächsische Zeitung
Januar 2018
Gabriele Gorgas
Ermutigung kann wohl jeder brauchen, ganz besonders in komplizierten Situationen. Und in Görlitz lässt sich schon längst von einer solchen sprechen, sind Arbeitsplätze eine aussterbende Spezies, die man schon bald in der Senckenberg-Sammlung wiederfinden kann. Kein Wunder, dass sich über die Jahre auch immer wieder die Tanzdarsteller vom Gerhart-Hauptmann-Theater damit befasst haben, wie sich Menschen fühlen, die zu einer Art von Verschiebe-Masse degradiert sind, codiert in Registraturen verschwinden oder gleich komplett „ausgesondert“ werden. Das macht schon wütend und ratlos, fordert dazu heraus, aufzubegehren und mit Einsatz eigener Mittel solidarisch zu sein.

Ganz so konkret und direkt befasst sich zwar das neue Tanzstück von Dan Pelleg und Marko E. Weigert nun auch wieder nicht mit genau dieser Thematik, aber es macht mit szenischen Sichtweisen auch deutlich, wie es jenen ergeht, die ausrangiert sind oder sich als selbst entscheidende Persönlichkeiten nicht ernst genommen fühlen. Da lohnt es allemal, gegen Etiketten und Schubladen anzugehen sowie assoziierend nachzufragen, ob es wirklich „Typisch“ – so der Titel des Stücks – sein muss, dass sich Menschen im Gefüge und Geschiebe bloß und ausgeliefert fühlen. Dafür wählen die beiden Tanzchefs und Choreografen ein Bild, das wohl jedem vertraut ist. Die Bühne (Ausstattung: Markus Pysall) ist dominiert von einem übergroßen Karteikarten-Schrank mit jeweiligen, dem Alphabet zugeordneten Schubladen, die zum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens werden. In diesen Personal-Boxen, die auch schon mal mit Überlänge bis ins Publikum hineinragen (ganz speziell jene mit „V – W“ und Management), stecken eingepfercht Menschen, die herausgezogen oder hineingestopft werden. Die sich emporhangeln oder absteigen und nach Maßstäben der Bürokratie einsortiert, „abgewinkelt“ sind, gleich gemacht oder auch ausgesondert werden.

Das alles ereignet sich im äußerst vielseitig variierten musikalischen Rahmen von „Little Boxes“, ein recht launig vor bald 80 Jahren von Malvina Reynolds geschriebenes Lied zur amerikanischen Konformität, das auch in seinen Sprachbildern nichts an Aktualität verloren hat. Wobei die „Boxen“ heute ja etwas anders aussehen, eher virtueller Art sind, und sich die Konformität, vor allem auch die zu erfassende Erreich- und Erkennbarkeit in erschreckender Weise erweitert hat.

Keine Frage, die beiden Choreografen haben sich mit ihrer Company viel einfallen lassen, was in diesem Sinne „Typisch“ ist oder sein könnte. Und so krabbelt, wimmelt, klettert, flitzt es nur so über die Bühne, sind die Register-Schubladen stark in Gebrauch und sammeln sich die Tänzer selbst noch hoch oben zur Boxendach-Party. Eine hier eher überschaubare Menge, die auch schon mal mit zischender Gerätschaft codiert wird, was ziemlich gruselig anmutet. Und genutzt ist ebenso die Chance, „Messlatten“ des eigenen Berufsstandes anzulegen. Da sind in das Geschehen halbwegs klassische Variationen eingebaut, in denen sich das Tanzvolk zunehmend gleich geführten Marionetten bewegt, gibt es ein bewegtes Abwägen zwischen Sein und Schein.

An Ideen für die Inszenierung mangelt es also keineswegs, und das Publikum feiert geradezu die Beteiligten, spart schlussendlich nicht mit Beifall. Dennoch erscheint es problematisch, und das dürfte wohl in der ganz persönlichen Box der beiden Choreografen verstaut sein, dass sie in ihrer Bewegungssprache viel zu wenig variieren. Wenn es direkt und unmittelbar um den Karteikarten-Schrank geht, ist das weniger auffällig. Aber im freien Raum, in den Soli, Duetten oder zuweilen auch in Gruppierungen erschöpft sich ihr Bewegungsvokabular allzu schnell. Viel zu selten können die Tänzer mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten aufwarten, was für dieses Stück ja elementar ist. Wie beispielsweise jenes nah ins Blickfeld gerückte und bewusst entschleunigte Solo von Jeremy Detscher. Da ist doch was, und gerade dieses, so ganz persönliche „Aussteigen“ sollte im Abwägen immer wieder zu entdecken sein. Aber das verlangt auch mehr Struktur. Die Szenen und Aktionen müssen sich nicht jagen. Es muss auch nicht immer viel und noch mehr passieren. Die Choreografen, die Tänzer, auch die Zuschauer müssen zur Besinnung kommen können. Darum geht es doch. Diese Produktion hat durchaus das Potenzial, sehr gut zu sein, und das Publikum ist davon deutlich angesprochen. Nur das Maß muss stimmen und die Bewegungssprache sollte differenzierter sein.