Klischees aus der Kiste

Nach Stereotypen sortiert, werden die Tänzerinnen und Tänzer in Schubladen gesteckt – ein Abend, der mit Klischees spielt.

tanznet.de
Januar 2018
Boris Michael Gruhl
Einen großen Kasten mit zwölf Schubladen hat Markus Pysall für das neue Tanzstück von Dan Pelleg und Marko E. Weigert auf die ansonsten leere Bühne des Theaters in Görlitz gestellt. Die Schubladen sind gekennzeichnet, jeweils zwei Buchstaben, von A bis Z, also Platz für das ganze Alphabet und vor allem für die zwölf Protagonistinnen und Protagonisten der Görlitzer Tanzcompany.

Moritz Bard hat etliche Varianten des berühmten Songs „Little Boxes“ von Malvina Reynolds aus dem Jahre 1962, mit dem sprichwörtlich gewordenem „ticky tacky“ (bezogen auf die bauliche Monotonie amerikanischer Vorstadtsiedlungen der sechziger Jahre, in denen entsprechend geformte und verwendbare Menschen früh ihre Schachteln verlassen und am Abend wieder darin verschwinden) zusammengestellt und miteinander verbunden. Das geht mit einer Fassung von Iggy Pop los, Dakota Lynne oder Walk of the Earth sind auch dabei, für Pete Seeger, der den Song ja eigentlich berühmt machte, waren sicher die Rechte nicht zu bekommen.

Dafür gibt es eine ironische Kitschfassung à la Hansi Hinterseer, verfasst und gesungen von Weigert und Pelleg, die Sopranistin Jenifer Lang macht eine Opernkiste nach Puccini auf und in der A-Capella-Kunst bewähren sich Anna Gössi und Dan Pelleg. Zwischen den Kisten – unverzichtbar in zeitgenössischen Tanzkisten – Einspielungen mit dem Kronos Quartett. Überraschend ist dann Ballettmusik von Charles Gounod und wenn die Operettenkiste aufgemacht wird, tanzen die Grisetten, hier als „Grausetten“ von Franz Lehár aus „Die Lustige Witwe“.

Alles beginnt mit einer Art Urschrei aus der Gruppe der einheitlich gekleideten und so zunächst kaum unterscheidbaren Tänzerinnen und Tänzer. Noch gibt es wohl Widerstand gegen den Kistenzwang und weiteren „Schnicki-Schnacki“. Sogar ein nackter Adam hat sich verirrt, ein sensibles Duo folgt Puccinis Adagietto-Melodik, wird dann aber gleich von einem anderen Tanzduo mit aggressivem Duktus abgelöst. Sind die Kisten schon geöffnet, wird schon geprüft, wer in welche Schublade passt: Was ist „typisch“ für Männer, für Frauen, für den Tanz, fürʻs Ballett, für die Show? Inwieweit gilt für alle, für jede, für jeden Menschen das Grundgesetz, das Recht nämlich auf freie Entfaltung der Persönlichkeit? Aber wer weiß denn, wie es sich verhält mit der Persönlichkeit?

Nicht so einfach, denn schon steht neben der Kiste mit den Schubfächern so ein Monstrum von Verhaltensschrank, „#Mann“. Und da kommen sie heraus, gepresst und gehärtet mit allen Utensilien und Handgriffen aus der Westernkiste und keine Frage – die Biologie des Geschlechtes, an welches „Mann“ sich so gern greift, spielt keine Rolle, denn eine Frau ist auch darunter, ganz männlich, versteht sich.

Immer wieder, wenn es zu typisch zu werden droht, und das ist wohl das Anliegen dieser Produktion, geraten die Typen und Typinnen zwischen die Kisten. Kann auch schon mal sein, dass einer den oder die andere brutal in genau jene Kiste stecken will, der er oder sie gerade entkommen ist. Natürlich werden auch die Tanzschubladen geöffnet, es gibt die typische Tanztheaterbetroffenheit, die große Show bekommt kleine Hiebe – warum muss da immer Helene Fischer herhalten? Oder ist das der pure Neid, denn deren Töne wackeln eben nicht, die der Tanzpositionen, wenn die Ballettkiste aufgemacht wird, allerdings schon bedenklich. Das jedoch löst sich auf, wenn typische Tanzroboter ihre Späße treiben, oder in Korrespondenz zu einer Videozuspielung die Tänzerinnen und Tänzer tief in die Schubladen der Operngesten greifen.

Es wird gehipt und gehopt. Franz Lehárs Grisetten werden zu skurrilen „Grausetten“, die ihre Insignien der Weiblichkeit mit genau jenen Melonen, die Männer sonst auf den Köpfen tragen, clownesk aufbessern; wahrscheinlich, weil das dem entspricht, was so in den Schubladen männlicher Köpfe schlummert und hier mal ganz ungeniert aus der Kiste kommt. Und wie zu Beginn bei den harten Kerlen schon eine Frau dabei war, gehört jetzt auch ein ganz grausettiger Kerl dazu.

Wenn die Tänzerinnen und Tänzer in den Schubladen des Kastens verschwinden, wenn sich die Schubladen öffnen, mal nur Hände, dann wieder Füße oder Köpfe zu sehen sind, wenn sie die Schubladen wechseln, wenn sie sich akrobatisch herauswinden, dann gibt dieser Schrank auch den Anlass für die bildstarken Momente dieses Abends, der insgesamt wohl Zeichen setzen soll gegen die Einordnung und die Typisierung von Menschen, was schlimmstenfalls zu Verfolgung und Diskriminierung führen kann – und als konzeptioneller Gedanke dem Programmheft zu entnehmen ist.

Nach 90 Minuten, die nicht immer wie im Fluge vergehen, wird dieser für die Görlitzer Tanzcompany in seinem Anliegen schon sehr typische Abend vom Premierenpublikum stürmisch gefeiert. Aber auch das ist zum Glück typisch, denn an Freunden für den Tanz mangelt es offensichtlich nicht. Typisch Görlitz, ganz im Ernst.